anhängig

mittelfest 2024

19-28 Juli

(Störungen)

>

Die Entropie, nicht die Energie sorgt dafür, dass der Stein liegen bleibt und die Welt sich dreht.
Carlo Rovelli, L’ordine del tempo (Die Ordnung der Zeit)

Die Menschheit hat schon immer das Chaos gefürchtet, doch inzwischen ist es so normal und allgegenwärtig geworden, dass wir vielleicht darüber nachdenken sollten, es fest in den Mittelpunkt des neuen Weltbildes zu stellen.
Benjamín Labatut, La piedra de la locura (Der Stein des Wahnsinns)

Doch hier stehe ich und betrachte, ohne sie zu sehen, die Fahrgäste auf der Durchreise am Münchner Hauptbahnhof: Sie sind schön, wenn sie ihre Augen zur Tafel mit den Abfahrtszeiten heben, als warteten sie auf eine Offenbarung – die Minuten, der Bahnsteig, etwas Genaues im Chaos der Tage.
Paolo Di Paolo, Romanzo senza umani (Roman ohne Menschen)

Im 19. Jahrhundert ging das Leben auf der Kleinseite mit jener ruhigen habsburgischen Regelmäßigkeit seinen Gang, die alle Dinge ähnlich und vorhersehbar machte, so als ob sie schon immer so gewesen wären und sich bis in alle Ewigkeit wiederholen würden. Man kannte Herren und Schurken, strenge Ehefrauen und aufmüpfige junge Mädchen, und alle spielten genau ihre Rolle in der Komödie. Sogar skurrile Persönlichkeiten hatten eine eigene Rolle, wie Dr. Allesverderber: Eigentlich hieß er anders, dieser mit Summa cum laude promovierte Arzt, Sohn und Enkel und Urenkel von Ärzten, der sein Stethoskop an den Nagel gehängt und seine Patienten im Stich gelassen hatte, vollkommen vertieft in sein hartnäckiges Schweigen und mit seinem merkwürdigen Fahrrad beschäftigt.
Auf der Kleinseite waren im 19. Jahrhundert die Dinge so geregelt und klar, dass die Prager selbst bei einem Todesfall, vor allem bei Herren von unzweifelhaftem Verdienst, gelassen und zufrieden zur Beerdigung strömten: Einige bereiteten den Trauerzug vor und führten ihn an, andere folgten ihm, wo es angebracht war, wieder andere trauerten auf ihre Weise und zeichneten bereits am Andenken an den lieben Verstorbenen.
Und so war es auch – so erzählt Jan Neruda – als der Tod den geschätzten Rechnungsrat Schepeler zu sich rief: Am Morgen des Abschieds lächelten die Amtspraktikanten, die seinen Sarg trugen, stolz, genau wie der Arzt, der ihn in seinen letzten Stunden begleitet hatte, der bestellte Lieblingserbe, der bekannte und geachtete „beste Freund“ und sogar seine Witwe (mit ein paar Tränen angesichts der pünktlichen und ordentlichen Teilnahme am Trauerzug).
Auf der Kleinseite war die Aufregung groß, als beim rituellen Besprengen des Sarges mit Weihwasser am Aujezder Tor die Kutsche über den unebenen, steinigen Boden ruckelte und der Sarg an der Schmalseite zu Boden rutschte: Mit großem Getöse sprang der Deckel ab, als der Sarg sich aufbäumte. Der Zufall wollte es, dass genau in jenem Moment Dr. Allesverderber, wie gewöhnlich wortkarg und mit dem Fahrrad unterwegs, das Tor passierte: Und so geschah es, dass der Unglückliche plötzlich den blassen Rechnungsrat Schepeler vor sich hatte, leicht aus dem Sarg ragend, mit angewinkelten Knien und dem aus dem Sarg baumelnden linken Arm.
Auf der Kleinseite war die Aufregung groß, als Dr. Allesverderber den armen Rechnungsrat untersuchte: Er zog seine Augenlider hoch, prüfte seinen Puls und hörte seine Brust ab. Der Trauerzug geriet in Aufruhr: Die Praktikanten stürzten sich auf den Arzt, der bestellte Erbe rief den Himmel an, der Freund lief los, um die Wachen zu rufen, und die Witwe fiel über der wogenden Menge in Ohnmacht. In dem Moment horchte Dr. Allesverderber, der, von der Menge fast gelyncht, den Rechnungsrat Schepeler sachkundig hingelegt hatte, weiter dessen Brust und Puls ab und erklärte der verwirrten Menge, dass der Verstorbene noch nicht zu beklagen sei, da sein Herz noch schlage.
Von Mund zu Mund und von Fuß zu Fuß sprangen die Worte durch die verwinkelten Gassen auf der Kleinseite, eine Stimme, die in der verhaltenen Stille erklang und die schließlich in einem erstaunten Durcheinander explodierte, dem niemand – außer Dr. Allesverderber – das richtige Gefühl zuordnen konnte: „Er atmet!“. Rechnungsrat Schepeler lebte.
Im 19. Jahrhundert kehrte auf der Kleinseite wieder jene ruhige habsburgische Regelmäßigkeit ein, die alle Dinge ähnlich und vorhersehbar machte, bis auf den hartnäckigen Wahnsinn des Dr. Allesverderber: Von allen aufgesucht und von allen verehrt, zog er weiterhin das Fahrrad seinen Patienten vor. Ein gewisses Durcheinander umgab ihn: Wer weiß, ob er nicht noch andere wundersame Störungen auf Lager hatte.

Nun, auch wenn der Schein trügt, stimmt es auch, dass er nicht immer böswillig trügt – zumindest ist das nicht die Absicht derjenigen, die manipulieren. Denn auch wenn das Meer ruhig ist, stimmt es auch, dass sich unter jenem graublauen Film die chaotische Dynamik der Tiefen verbirgt. Und auch wenn der Himmel klar ist, stimmt es auch, dass jenseits des Blaus, in der Dunkelheit der Galaxien, irgendein Stern explodiert oder implodiert und in den harmonischen Störungen, die viele Milliarden Jahre dauern, Wirbel an Wirbel hinzufügt. Und die Störungen im All blitzten vor den scharfen Augen derer auf, die vor hundert Jahren mitten in einem vom Ersten Weltkrieg zerrissenen Mitteleuropa zwei Ideen erahnten und erforschten, die sowohl bedrohlich als auch voller fruchtbarer Störungen waren, Ideen, die – so Carlo Rovelli – „die Menschheit, glaube ich, noch nicht verdaut hat“: die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Es war eine Gruppe junger Wissenschaftler voller Tatendrang und Begeisterung, unterschiedlicher Leidenschaften und gegenseitigem Hass, die zwischen dem Umsturz etablierter Ordnungen und den neuen Gesetzen eines Universums im Chaos zwei erschütternde Visionen enthüllten: Da waren der Wolfgang Pauli aus Wien und Werner Heisenberg aus Bayern, die beide Assistenten von Niels Bohr in Kopenhagen waren, der gebürtige Ungar und Außenseiter János Neumann, der sich später in John von Neumann umbenannte und als einer der Väter der Informatik unserer unerbittlichen Computer und Algorithmen gilt. Und dann waren da noch Erwin Schrödinger, der andere Wiener, dessen Leben turbulent und nie langweilig war, vor allem aber der staatenlose Einstein, dessen Relativitätstheorie die Tür zu einer Natur geöffnet hatte, die den „Wahrscheinlichkeiten“ folgt und sich verändert, je nachdem, wer sie „beobachtet“. Kurzum, der Kosmos schien nun von einem furchterregenden Gott gelenkt zu werden, der mit den Würfeln spielte: Lohnt es sich da nicht, es Dr. Allesverderber gleichzutun und auf das Fahrrad zu steigen?

Und doch hat das Chaos jenes bizarren Universums, das sich uns vor hundert Jahren auftat, das Tempo unserer Zeit bestimmt, mit Hochgeschwindigkeitszügen, unerbittlichen Automaten und Satellitentechnologie, Magnetresonanztomographien den Drohnen – ob sie Weihnachtspakete oder Bomben bringen, wissen wir nicht. Und doch hallt das Chaos jenes bizarren Universums, das sich uns vor hundert Jahren auftat, in den Gefühlen unserer Zeit nach, in den weit aufgerissenen Augen, die Lichter betrachten, die sich allein in der Dunkelheit bewegen, im begeisterten Eifer derer, die ihr Unbehagen über die unaufhörlichen Neuerungen und Zumutungen hinausschreien, in der müden Orientierungslosigkeit der unermüdlichen, freien und anderen, Reisenden, in der Erregung derer, die jeden Trick in eine neue Möglichkeit verwandeln.
Was soll man angesichts dieser Orientierungslosigkeit tun: versuchen, alles wieder in Ordnung zu bringen, indem man die eiskalten Regeln vergangener Zeiten und die Algorithmen der Zukunft befolgt oder sich mit der prüden Wildheit des Sex Zwanzigjähriger auf ein Abenteuer einlassen und auf der Welle reiten, die kommt, im Guten wie im Schrecklichen? Sich in den eigenen vier Wänden verstecken und von einem Bildschirm aus beobachten, was draußen passiert, und dabei hoffen, dass man nicht gegen den eigenen Willen dort landet, oder sich als Protagonist in die Mitte des Bildes werfen? Oder vielleicht, wie der Seiltänzer, versuchen, die Welt zu durchpflügen, auf dem eigenen schmalen Pfad schwankend, am Abgrund zum Ziel schwebend, inmitten von Konflikten, Illusionen, Rennen, Hoffnungen und anderen prächtigen Störungen?