mittelfest2024

mittelfest 2024
19-28 juli
Nun, auch wenn der Schein trügt, stimmt es auch, dass er nicht immer böswillig trügt – zumindest ist das nicht die Absicht derjenigen, die manipulieren. Denn auch wenn das Meer ruhig ist, stimmt es auch, dass sich unter jenem graublauen Film die chaotische Dynamik der Tiefen verbirgt. Und auch wenn der Himmel klar ist, stimmt es auch, dass jenseits des Blaus, in der Dunkelheit der Galaxien, irgendein Stern explodiert oder implodiert und in den harmonischen Störungen, die viele Milliarden Jahre dauern, Wirbel an Wirbel hinzufügt. Und die Störungen im All blitzten vor den scharfen Augen derer auf, die vor hundert Jahren mitten in einem vom Ersten Weltkrieg zerrissenen Mitteleuropa zwei Ideen erahnten und erforschten, die sowohl bedrohlich als auch voller fruchtbarer Störungen waren, Ideen, die – so Carlo Rovelli – „die Menschheit, glaube ich, noch nicht verdaut hat“: die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Es war eine Gruppe junger Wissenschaftler voller Tatendrang und Begeisterung, unterschiedlicher Leidenschaften und gegenseitigem Hass, die zwischen dem Umsturz etablierter Ordnungen und den neuen Gesetzen eines Universums im Chaos zwei erschütternde Visionen enthüllten: Da waren der Wolfgang Pauli aus Wien und Werner Heisenberg aus Bayern, die beide Assistenten von Niels Bohr in Kopenhagen waren, der gebürtige Ungar und Außenseiter János Neumann, der sich später in John von Neumann umbenannte und als einer der Väter der Informatik unserer unerbittlichen Computer und Algorithmen gilt. Und dann waren da noch Erwin Schrödinger, der andere Wiener, dessen Leben turbulent und nie langweilig war, vor allem aber der staatenlose Einstein, dessen Relativitätstheorie die Tür zu einer Natur geöffnet hatte, die den „Wahrscheinlichkeiten“ folgt und sich verändert, je nachdem, wer sie „beobachtet“. Kurzum, der Kosmos schien nun von einem furchterregenden Gott gelenkt zu werden, der mit den Würfeln spielte: Lohnt es sich da nicht, es Dr. Allesverderber gleichzutun und auf das Fahrrad zu steigen?
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Und doch hat das Chaos jenes bizarren Universums, das sich uns vor hundert Jahren auftat, das Tempo unserer Zeit bestimmt, mit Hochgeschwindigkeitszügen, unerbittlichen Automaten und Satellitentechnologie, Magnetresonanztomographien den Drohnen – ob sie Weihnachtspakete oder Bomben bringen, wissen wir nicht. Und doch hallt das Chaos jenes bizarren Universums, das sich uns vor hundert Jahren auftat, in den Gefühlen unserer Zeit nach, in den weit aufgerissenen Augen, die Lichter betrachten, die sich allein in der Dunkelheit bewegen, im begeisterten Eifer derer, die ihr Unbehagen über die unaufhörlichen Neuerungen und Zumutungen hinausschreien, in der müden Orientierungslosigkeit der unermüdlichen, freien und anderen, Reisenden, in der Erregung derer, die jeden Trick in eine neue Möglichkeit verwandeln.
Was soll man angesichts dieser Orientierungslosigkeit tun: versuchen, alles wieder in Ordnung zu bringen, indem man die eiskalten Regeln vergangener Zeiten und die Algorithmen der Zukunft befolgt oder sich mit der prüden Wildheit des Sex Zwanzigjähriger auf ein Abenteuer einlassen und auf der Welle reiten, die kommt, im Guten wie im Schrecklichen? Sich in den eigenen vier Wänden verstecken und von einem Bildschirm aus beobachten, was draußen passiert, und dabei hoffen, dass man nicht gegen den eigenen Willen dort landet, oder sich als Protagonist in die Mitte des Bildes werfen? Oder vielleicht, wie der Seiltänzer, versuchen, die Welt zu durchpflügen, auf dem eigenen schmalen Pfad schwankend, am Abgrund zum Ziel schwebend, inmitten von Konflikten, Illusionen, Rennen, Hoffnungen und anderen prächtigen Störungen? Die Würfel sind noch nicht gefallen.