mittelfest tabù
18-27 Juli 2025
Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen.
Sigmund Freud, Totem und Tabu
„Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter. Nur das brauche ich, um zu dir hinaufzusteigen“. Und mit diesen Worten, so erzählt das Märchen, stieg die Zauberin jeden Tag den Turm hinauf, in dem sie die schöne Rapunzel eingesperrt hatte: Es gab keinen Eingang, keine Treppe, keine Tür, sondern nur ganz oben ein kleines Fensterchen, einsam im Wald. Dort verbrachte das junge Mädchen sein Leben: Dieses Fenster war die Grenze, die niemals überschritten werden durfte. Außer der Zauberin durfte nichts den Turm verlassen, und nichts durfte hinein. Bis zu dem Tag, an dem der Königssohn dort vorbeiritt und sich von Rapunzels lieblichem Gesang verzaubern ließ. Er erspähte den Turm und sah, wie die Zauberin sich Eingang zum Turm verschaffte. Mit List gelang es ihm, das Verbot zu brechen: Er hielt sich an dem langen goldenen Haar des Mädchens fest, stieg hinauf und schlüpfte durch das Fenster. Als Rapunzel ihn sah, verspürte sie weder Angst noch Zorn, sondern ein neues, ihr unbekanntes Gefühl: Und so kehrte der Königssohn heimlich zurück, wann immer er konnte, immer öfter, bis die Zauberin die beiden entdeckte. Rapunzel hatte den Zauber des Turms im Wald gebrochen: Sie wurde in eine Wüstenei verbannt, während dem Königssohn die Augen, mit denen er die Liebe erblickt hatte, von Dornen zerstochen wurden. Die Liebe aber hat einen mächtigen Blick, der sich über alle Verbote, ob geschrieben oder ungeschrieben, hinwegsetzt: So führte sie den jungen Mann nach langer Wanderschaft in die Wüste und ließ ihn erst Rapunzel und dann sein Augenlicht wiederfinden. Nachdem ein Zauber gebrochen worden war, war ein neuer geschaffen worden.
Die Tabus, die wie Rapunzel in ihrem verzauberten Turm den Blick auf die Welt durch den Rahmen eines kleinen Fensters zulassen, sind stumm: So ziehen sie die unsichtbare Grenze zwischen dem Blick und dem, was stört, was verboten oder gefährlich ist, während sie gleichzeitig dem heiligen und sicheren Ort, an dem der Blick ruhig verweilen darf, Substanz verleihen.
Doch Tabus bewegen sich auch, wiederum lautlos: Durch den Zauber einer Begegnung und ohne neue oder weitere Worte verschieben sie die Grenze zwischen dem, was geheim bleiben soll, und dem, was offenbar werden darf. So definieren Tabus in der Geografie und in der Geschichte die unausgesprochenen Regeln, die sich die Menschheit selbst gibt. Und in welchen Tabus leben wir in unseren Breitengraden und in dieser Zeit der langen Menschheitsgeschichte? Welche Rätsel, Schmerzen, Loyalitäten, Verbote und Wünsche, Grenzen, Träume oder Ängste markieren unsere Grenzen?
Tabus und ihr Geheimnis, klar und unbekannt für jene, die sie leben, unverständlich und offensichtlich hingegen für alle, die ihnen nicht unterworfen sind, sind die ungeschriebenen Gesetze, auf denen der faszinierende und furchterregende Zauber unserer vielfältigen Welt beruht, die eher schwer fassbar als transparent ist. Vielleicht gibt es ohne Tabu keine Menschlichkeit. Wer mag, habe das Vergnügen, das zu entdecken.
Giacomo Pedini
Künstlerischer Leiter von Mittelfest
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