mittelfest 2023

mittelfest 2023
vom 19 bis 28/7
(unvermeidlich)
Inmitten einer alten orientalischen Stadt scheint es einen geheimen Ort zu geben, der wie ein gewöhnliches Geschäft aussieht, der aber voller wundersamer Dinge ist: Wer vorbeigeht und schnell und unaufmerksam leicht die Tür berührt, sieht nichts Ungewöhnliches. Am Ende würde er einfach weitergehen. Der junge Wanderer hingegen, der ziellos und unbedarft, nur mit viel Zeit und voller Neugier, hungrig durch das verworrene alte Gassengewirr streifen kann, wird das Glück haben, die Tür zu öffnen und den Laden zu betreten. Dann wird der schlaue Besitzer, ein Alchemist, ihm vielleicht seinen seltsamen Spiegel zeigen, der in der Mitte des Raumes steht. Das aufmerksame Auge des Wanderers hat bereits sein seltsames Spiegelbild bemerkt. Denn es ist kein Spiegel, sondern ein Tor zu den Jahren. Von der rechten Seite des Rahmens aus, so wird ihm gesagt, kann man denselben Ort in zwanzig Jahren sehen. Von der linken Seite aus kann man hingegen denselben Ort vor zwanzig Jahren sehen. Jeder kann durch das Tor gehen, sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit. Der Wanderer, von seiner unbändigen Neugier verführt, durchschreitet es von rechts, um sich selbst in der Zukunft zu suchen. Was wird das Leben für ihn bereithalten? Wird er noch leben, wird er reich sein oder zum Betteln verurteilt? Der junge Mann wird sich selbst sehen, älter und wohlhabender und bereit, ihn mit großzügigen Ratschlägen und nachdenklichem Schweigen zu empfangen. Wenn er rastlos und fassungslos aus dem Tor kommen wird, wird er den gewohnten Lauf seiner Zeit wieder aufnehmen: Er wird etwas riskieren, ertragen, er wird sich freuen, sich abmühen, bis er ein wohlhabender und erfahrener Kaufmann wird, reich an einer Weisheit, dank der er Ratschläge erteilen und schweigen kann. Erst dann wird er zum Tor zurückkehren, nicht mehr, um es zu durchschreiten, sondern um sich bei dem geheimnisvollen Alchemisten zu bedanken, zufrieden damit, wie er an das Ende seines Lebens gelangt ist: Er hat das Gefühl, es weise geführt zu haben, weiß jedoch nicht, ob aufgrund seiner Entscheidungen oder aufgrund des unvermeidlichen Schicksals.
Rückwärts betrachtet, erstreckt sich unsere Zeit geradlinig und sicher, wie der Faden, der von den römischen Parzen oder den germanischen Nornen, den geheimnisvollen Spinnerinnen miteinander verwobener menschlicher Ereignisse, gesponnen wird. Jedes Ereignis offenbart sich als unvermeidlicher Moment in einer einzigen, langen Geschichte. Das gilt für das Leben eines jeden Einzelnen von uns, aber genauso für das Leben aller. Heißt das also, dass die Entscheidungen, die wir treffen, in Wirklichkeit keine Entscheidungen sind, weil sie durch ein bereits gegebenes Schicksal bestimmt sind? Gleiten wir schnell, wie Kugeln auf einer schiefen Ebene, geradewegs auf ein Ziel zu, das sich nicht vermeiden lässt? Und was ist, wenn kurz vor dem Ziel etwas passiert und sich der Lauf der Dinge ändert? Wenn eine der Kugeln von der Ebene springen würde, wäre das auch eine unvermeidliche Tatsache?
Sind wir, nachdem wir, wie Italo Calvino in seiner Herausforderung an das Labyrinth bemerkte, „die Phase der totalen Industrialisierung und Automatisierung“ erreicht haben, vielleicht gezwungen, uns wie Automaten zu verhalten, uns den unerbittlichen Mechanismen des jeweils geltenden Algorithmus zu unterwerfen, unvermeidliche Schritte in einer Welt zu gehen, in der „die Maschinen den Menschen voraus sind und die Dinge das Gewissen beherrschen“? Wie groß ist der Spielraum für die eine Entscheidung, die den Lauf eines scheinbar unabänderlichen Mechanismus verändern kann?
Wie der Wanderer, der durch die Pforte zu den Jahren schreitet, oder wie derjenige, der in den Tarotkarten und der überzeugenden Stimme der Wahrsagerin Antworten für die eigene Zukunft sucht, bleibt die Vision einer fernen, vor uns liegenden Zukunft, so klar und bestimmt sie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, trügerisch, denn nichts verrät den langen Weg, der dorthin führt. Aus der Ferne betrachtet und vom Rest isoliert, kann das Ziel einer fernen Zukunft, ob verführerisch oder schrecklich wie das Glück der Tarotkarten, ebenso endgültig wie unvermeidlich erscheinen. Sobald man jedoch wieder ins Labyrinth der Ereignisse zurückkehrt, verschwimmen seine Züge wieder. Man findet sich wieder einmal mit getroffenen bzw. nicht getroffenen Entscheidungen ab oder kämpft mit ihnen, ohne jemals zu wissen, ob der Punkt, an dem man ankommt, unvermeidlich ist oder nicht. Wer weiß, vielleicht ist jedes Schicksal eine Entscheidung.
Giacomo Pedini, Künstlerischer Leiter